Podium

Design in Mexiko

Wo im Design immer noch eins drauf gesetzt wird.

Emily Schlüter und Kirsten Küppers
21. Juni 2024

Nach ihrem Design-Abschluss am Central Saint Martins College, haben alle Emily Schlüter geraten, in London oder Europa zu bleiben. Weil dort das „wegweisende Design unserer Zeit“ entwickelt werde. Stattdessen zog Emily nach Mexiko-City, wo sie knapp fünf Jahre geblieben ist. Warum? Die Herangehensweise an Design in Mexiko ist der Hammer, findet sie. Was Gestaltung in Mexiko so besonders macht, erzählt sie hier.

„Egal ob an einem Taco Stand, an den Fassaden oder in der U-Bahn – in Mexiko bist du immer von einer Fülle von Eindrücken umgeben. Die inspirierenden Einflüsse der verschiedenen Epochen und Kulturen Mexikos finden sich im Alltag überall und in der buntesten Kombination wieder. Unvollkommenheiten sind bei diesem Mix sehr willkommen.

Das fängt schon bei den Häusern an. Da es generell wenige Einschränkungen gibt, können die Menschen ihre wildesten Träume und Visionen verwirklichen. Und sie toben sich dabei mit Wandfarben, Materialien, Formen ordentlich aus. Ob man ein Disney-ähnliches Mini-Schloss bauen will oder einen modernen Betonbau, alles ist erlaubt. Das macht jedes Haus für sich zum Unikat.

1/16

Ähnlich verhält es sich bei den Schriften an Wänden und Shops. Sie sind oft von den unbekannten Helden des „Rotulo“-Handwerks handgemalt. Gerne wird auch einfach auf das zurückgegriffen, was gerade da ist. Wenn du nur Sticker zur Hand hast, um zu beschriften, dann machst du es halt mit Stickern. Das Design nutzt die Freude an der Improvisation, sie wird mit Humor eingesetzt und als Vorteil gesehen.

Diese Aufgeschlossenheit und der Mut zum Ausprobieren lassen sich vielleicht zurückführen auf die revolutionäre Energie der indigenen Bevölkerung gegen die einst herrschende europäisch ausgerichtete Klasse. Sie mündete 1920 in eine Zeit der gesellschaftlichen Selbstfindung und Umwälzung. Damals belebten Künstler:innen indigene und präkoloniale visuelle Elemente neu, besonders in Druckgrafiken für Zeitschriften und Zeitungen. Die Themen waren meist politisch, die Motive revolutionär.

Bekannte Künstler dieser Zeit sind zum Beispiel Milo Leopoldo Mendez, José Guadalupe Posada, Alberto Beltran, der viel mit Holzschnitt gearbeitet hat, Francisco de Leon, der die Buchgestaltung vorangetrieben hat. Und Diego Rivera, der als Maler und Ehemann von Frida Kahlo berühmt ist und vor allem wegen seiner „Murales“, seiner Wandgemälde.

1/18

Natürlich entwickelte sich auch eine Gegenbewegung zu diesem radikalen Bruch mit den kolonialen Einflüssen. Diese Strömung hielt weiter an der klassischen europäischen Ästhetik fest und experimentierte mit Schrift als starkem Ausdrucksmittel.

Viele Künstler:innen und Gestalter:innen wie Dr. Atl haben damals auch ihre eigenen Schriften entworfen. Gängige Schriften kamen meist aus Europa und mussten teuer erworben werden. Für die Illustrator:innen, die sowieso schon die Buchcover gestalteten, war es oft günstiger, die passende Schrift selbst zu kreieren und damit ein Gesamtbild zu schaffen, das Schrift und Illustration nahtlos verbindet.

Aktuell drehen Gestalter:innen diese Nostalgie des letzten Jahrhunderts weiter. Sie greifen Elemente vergangener Strömungen auf und entwickeln sie neu. Das elegante Spiel mit Typografie zum Beispiel. Heute bewegt es sich im Spannungsfeld von Wertschätzung und Hinterfragung der Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts, bekannte Bilder werden gebrochen und anders zusammengesetzt. Genauso werden prähispanische Elemente wie Masken und Hieroglyphen in neuen Zusammenhängen genutzt, um Bezug auf die reiche Kulturgeschichte des Landes zu nehmen.

Die jüngste Generation von Gestalter:innen – die nach Edge sucht, die wild ist, queer, mutig, und digital – schnappt sich diese Versatzstücke, verfrachtet sie in ein unerwartetes Umfeld und setzt noch eins drauf.“

1/15

Zur Person
Emily Schlüter hat ihren Abschluss in Graphic Communication Design am Central Saint Martins College in London gemacht, bevor sie für vier einhalb Jahre nach Mexiko-City ging. Bei den Designstudios Estudio Herrera und Sodio gestaltete sie Projekte für Kund:innen aus Kultur und Wirtschaft. Seit Herbst 2023 ist Emily Schlüter Teil unseres Design-Teams.

Ansprechpartner:in

Emily Schlüter
UI-Design
Mail


Kirsten Küppers
Redaktion, Text
Mail